Zusammenfassung
Das Karpaltunnelsyndrom bezeichnet eine chronische Kompression des N. medianus unter dem Retinaculum flexorum im Karpaltunnel. Die Symptome ergeben sich aus der Funktion des N. medianus distal des Karpaltunnels. Früh zeigen sich nächtliche Schmerzen in Mittel- und Ringfinger, später auch in Daumen und Zeigefinger; im Verlauf kommt es zu einer Atrophie des Daumenballens. Verschiedene klinische Tests geben erste Verdachtshinweise, entscheidend ist aber die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit mittels Elektroneurografie. Beschränkt sich die Symptomatik auf nächtliche Schmerzen, kann ein Therapieversuch mit Ruhigstellung des Arms in der Nacht und kurzzeitiger medikamentöser Schmerztherapie erfolgen. Im Allgemeinen wird jedoch eine frühzeitige operative Dekompression durch Spaltung des Retinaculum flexorum angestrebt.
Epidemiologie
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Idiopathisch
- Überlastung: Häufiger bei körperlicher beruflicher Tätigkeit auftretend
- Chronische Entzündung der Sehnenscheiden: Bspw. bei rheumatoider Arthritis
- Trauma
- Arthrose des Handgelenks
- Risikofaktoren
- Familiäre Prädisposition, Adipositas
- Schwangerschaft
- Endokrin: Diabetes mellitus, Hypothyreose, Akromegalie, postmenopausale Östrogentherapie, längerfristige Cortisontherapie
- Exzessiver Alkoholkonsum
- Dialysepflichtigkeit
- ATTR-Amyloidose
Pathophysiologie
- Karpalkanal ist ein anatomischer Engpass
- Volumenzunahme des Tunnelinhalts → Druckerhöhung im Karpalkanal → Konsekutive Kompression → Ischämie des N. medianus → Entstehung eines intraneuralen Ödems mit fokaler Demyelinisierung
- Symptomsteigerung in der Nacht: Vermutlich durch Flexion des Handgelenks im Schlaf → Druckerhöhung und verminderte Perfusion im Karpalkanal
Symptomatik
- Frühsymptom: Brachialgia paraesthetica nocturna
- Nächtliche Schmerzen und Parästhesien der volaren Hand und der Finger I–IV
- Besserung der Symptomatik durch Schütteln oder Massieren der Hände
- Missempfindungen oder Hypästhesie im Nervenversorgungsgebiet
- Ausstrahlung der Beschwerdesymptomatik in den Arm
- Spätsymptom: Thenarmuskelatrophie (Daumenballenatrophie)
- Atrophische Paresen des M. abductor pollicis brevis und des M. opponens pollicis
- Selten: Trophische Haut- und Nagelveränderungen
- Häufige Begleiterkrankung: Tendovaginosis stenosans
Die Schwurhand gehört nicht zu den Symptomen! Diese tritt lediglich bei proximalen Medianusläsionen auf!
Diagnostik
Anamnese
- Schmerzen: Qualität und Zeitpunkt des Auftretens
- Missempfindungen
- Vorerkrankungen und Voroperationen
- Berufliche Tätigkeit
- Dauermedikation
Klinische Untersuchung
- Inspektion
- Thenaratrophie
- Untersuchung immer im Seitenvergleich!
- Ausschluss einer Inaktivitätsatrophie durch eine Rhizarthrose
- Haut- und Nagelveränderungen: Bspw. verminderte Schweißsekretion
- Thenaratrophie
- Palpation
- Oberflächensensibilität: Prüfen z.B. durch Berührung mit Wattebausch
- Stereoästhesie: Zwei-Punkte-Diskrimination
- Funktionsuntersuchung
- Abduktions- und Oppositionsschwäche
- Hoffmann-Tinel-Zeichen: Beklopfen des Karpaltunnels führt zu elektrisch einschießenden Schmerzen distal im Versorgungsgebiet des N. medianus
- Karpalkompressionstest: Druck auf den Karpaltunnel führt zu elektrisch einschießenden Schmerzen distal im Versorgungsgebiet des N. medianus
- Phalen-Zeichen: Forcierte Volarflexion oder Dorsalextension des Handgelenks (entweder durch den Untersucher oder den Patienten selbst ) über 1 min führt zu elektrisch einschießenden Schmerzen distal im Versorgungsgebiet des N. medianus
- Flaschenzeichen: Die Daumenabduktion ist durch den Ausfall des M. abductor pollicis brevis nicht mehr möglich, sodass ein rundes Gefäß nicht vollständig umschlossen werden kann
Eine Adduktionskontraktur durch eine Rhizarthrose kann ein positives Flaschenzeichen vortäuschen!
Apparative Diagnostik
- Ziel: Nachweis einer verringerten Nervenleitgeschwindigkeit des N. medianus als Folge einer Demyelinisierung
-
Elektroneurografie: Verlängerung der distalen motorischen und sensiblen Latenz
- Motorische Elektroneurografie: Testung und Vergleich der Latenzen von N. ulnaris und N. medianus [1][2]
- Bei unklaren Ergebnissen der motorischen Neurografie: Messung der sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) [2]
- Elektromyografie des M. abductor pollicis brevis : Neurogenes Schädigungsmuster
- Pathologische Spontanaktivität als Ausdruck einer floriden neurogenen Muskelschädigung durch sekundäre axonale Schädigung des N. medianus bei anhaltender Kompression
- Gelichtetes Interferenzmuster bei inkomplettem axonalen Verlust oder Funktionsausfall geschädigter motorischer Nervenfasern des N. medianus
- Normale bis leicht erhöhte Amplituden der MSAP
-
Elektroneurografie: Verlängerung der distalen motorischen und sensiblen Latenz
- Siehe auch: Präoperative Diagnostik bei Karpaltunnelsyndrom
Die klinischen Zeichen haben eine geringe Spezifität, entscheidend ist deshalb die Elektroneurografie!
Bei pathologischer apparativer Diagnostik ohne klinische Symptome ist keine Therapie indiziert!
Differenzialdiagnosen
- Polyneuropathie
- Zervikale Radikulopathie: C6/C7
- Rhizarthrose
- Anderweitige Kompression oder Verletzung des N. medianus
- Spinale Erkrankungen
- Weitere Nervenläsionen der oberen Extremität
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Konservative Therapie
- Indikation
- Nächtliche Schmerzen
- Geringe Beschwerdesymptomatik
- Durchführung
- Nächtliche Ruhigstellung durch gepolsterte, palmare Unterarmschiene
- Orale Glucocorticoid-Therapie über 14 Tage
- Einmalig: Lokale Infiltrationstherapie mit Glucocorticoiden
- Kurzzeitig analgetische Therapie (NSAR)
Operative Therapie
- Indikation
- Zeichen der Nervenschädigung (bspw. dauerhafte Dysästhesie, Thenarmuskelatrophie)
- Versagen der konservativen Therapie
- Durchführung
- Setting: Meist ambulant
- Vorbereitung
- Allgemeines präoperatives Management, siehe:
- Perioperatives Management
- Aufklärung über Komplikationen - Karpaltunnelsyndrom
- Anlage einer Blutsperre
- Siehe auch: Präoperative Diagnostik bei Karpaltunnelsyndrom
- Allgemeines präoperatives Management, siehe:
- Verfahren: Spaltung des Retinaculum flexorum (Lig. carpi transversum)
- Endoskopisch: Mono- oder biportal
- Offene Karpaldachspaltung
Komplikationen
- Akutkomplikationen
- Intraoperative Komplikationen, siehe auch: Komplikationen bei offener Karpaldachspaltung
- Akute postoperative Komplikationen, siehe auch: Komplikationen bei offener Karpaldachspaltung
- Spätkomplikationen
-
Rezidiv
- Erhöhtes Risiko bei
- Ausgeprägter Narbenbildung
- Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis
- Dialysepflichtigkeit
- 0,5–3% der Fälle
- Erhöhtes Risiko bei
- Persistierende Thenaratrophie
- Beidseitiger Befall
- Siehe auch: Komplikationen bei offener Karpaldachspaltung
-
Rezidiv
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Prognose
- Symptomverbesserung nach OP bei >80%
- Protrahierter Narbenschmerz: Symptomverbesserung kann bis zu 6 Monate dauern
- Längeres Intervall (>3 Jahre) zwischen Symptombeginn und operativer Therapie → Verschlechterung der Prognose
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- G56.-: Mononeuropathien der oberen Extremität
- Exklusive: Akute Verletzung von Nerven – siehe Nervenverletzung nach Lokalisation
- G56.0: Karpaltunnel-Syndrom
- G56.1: Sonstige Läsionen des N. medianus
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.
3D-Anatomie
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