Übersicht
Initiative
Die Initiative „Klug entscheiden“ wurde 2015 von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) ins Leben gerufen, inspiriert durch die amerikanische „Choosing Wisely“-Initiative. Ihr Ziel ist es, durch Aufklärung über Über- und Unterversorgung die medizinische Versorgung zu verbessern.
„Klug entscheiden“ fokussiert auf diagnostische und therapeutische Maßnahmen, die entweder zu häufig oder zu selten angewendet werden – obwohl sie entweder nicht nötig oder tatsächlich erforderlich wären. Ziel ist es, die Qualität der Versorgung zu steigern.
Die „Klug entscheiden“-Empfehlungen entstehen durch einen transparenten Prozess, der Vorschläge aus Fachgesellschaften sowie Konsensuskonferenzen mit Experten und Patientenvertretern umfasst. Diese Empfehlungen werden regelmäßig aktualisiert, um sicherzustellen, dass sie auf dem neuesten Stand der medizinischen Versorgung sind.
Die Empfehlungen basieren auf wissenschaftlicher Evidenz und bestehenden Leitlinien.
Weitere Schwerpunkte
- DGIM - Klug entscheiden in der Kardiologie
- DGIM - Klug entscheiden in der Infektiologie
- DGIM - Klug entscheiden in der Endokrinologie
- DGIM - Klug entscheiden in der Pneumologie
- DGIM - Klug entscheiden in der Angiologie
- DGIM - Klug entscheiden in der Rheumatologie
- DGIM - Klug entscheiden in der Gastroenterologie
- DGIM - Klug entscheiden in der internistischen Intensivmedizin
- DGIM - Klug entscheiden in der Nephrologie
- DGIM - Klug entscheiden in der Hämatologie und medizinischen Onkologie
- DGIM - Klug entscheiden in der Palliativmedizin
Positiv-Empfehlungen
HbA1c-Zielwerte bei >75-Jährigen an funktionelle Fähigkeiten anpassen
Bei der Behandlung des Diabetes mellitus beim älteren Patienten > 75 Jahre, soll die Zielgröße eines HbA1c an die funktionellen Fähigkeiten des Patienten angepasst werden.
- Niedrige HbA1c-Zielbereiche führen bei älteren Patienten zu einem häufigeren Auftreten von Hypoglykämien, die zu unmittelbaren kognitiven Defiziten führen können.
- Die angestrebte Senkung mikrovaskulärer Komplikationen ist aufgrund des langen Zeitverlaufs bis zum Auftreten dieser Komplikationen bei älteren Patienten weniger relevant.
- Daher sollten die HbA1c-Zielbereiche abhängig gemacht werden von den Zielen des Patienten, seinem Gesundheitsstatus und seiner Lebenserwartung.
- Die S2k-Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) empfiehlt für Patienten
- mit wenig Begleiterkrankungen und ohne kognitive und funktionelle Einschränkung mit einer Lebenserwartung von > 15 Jahren einen HbA1c -Zielbereich von 6,5–7,5 %;
- für sehr alte oder multimorbide oder kognitiv oder funktionell leicht ein - geschränkte Patienten mit einer Lebenserwartung von < 15 Jahren einen Bereich von < 8,0 % und
- für pflegeabhängige oder kognitiv stark eingeschränkte oder funktionell stark eingeschränkte Patienten einen Zielbereich von < 8,5 %. Die Nationale Versorgungsleitlinie Diabetes mellitus schlägt für letztere Patientengruppe einen HbA1c-Zielkorridor von 8,5–9 % vor (1–2).
1. Deutsche Diabetes Gesellschaft: S2k-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter, 2. Auflage 2018. AWMF-Registernummer 057–017. www.deutsche-diabetesgesellschaft.de/fileadmin/Redakteur/Leit linien/Evidenzbasierte_Leitlinien/2018/057_ 017_LL_Alter_Gesamtdokument_ 20180713.pdf (last accessed on 9 April 2019).
2. BÄK/ABV/AWMF (Hrsg.): Nationale Versorgungs-Leitlinie Therapie des Typ-2-Diabetes, Langfassung. 1. Auflage 2013. AWMFRegisternummer nvl-001g (abgelaufen am 1.8.2018, Neuauflage für 2019 angekündigt). www.awmf.org/leitlinien/detail/ ll/nvl-001g.html (last accessed on 9 April 2019).
Frühzeitige Mobilisierung älterer stationärer Patienten
Ältere Patienten sollen während ihres Krankenhausaufenthaltes früh mobilisiert werden.
- Bis zu 65 % älterer Patienten, die selbstständig gehfähig sind, verlieren die Gehfähigkeit während der Krankenhausbehandlung.
- Gehen während der Krankenhausbehandlung ist wichtig für den Erhalt der funktionellen Fähigkeiten älterer Patienten.
- Der Verlust der Gehfähigkeit verlängert den Krankenhausaufenthalt, erhöht den Rehabilitationsbedarf, die Überleitung in ein Pflegeheim, die Sturzhäufigkeit während und nach dem Krankenhausaufenthalt, die Anforderungen an Angehörige und Pflegepersonen und die Mortalität.
- Bettruhe oder reduzierte Mobilität – zum Beispiel nur Mobilisation in den Stuhl – fördert die Dekonditionierung während des Krankenhausaufenthaltes und ist eine wesentliche Ursache für den Verlust der Gehfähigkeit während des Krankenhausaufenthaltes.
- Ältere Patienten, die während ihres Krankenhausaufenthaltes gehen, sind auch bei Entlassung gehfähig, können früher entlassen werden, zeigen bessere Fähigkeiten zur Bewältigung der Aktivitäten des Lebens und eine schnellere Erholung nach chirurgischen Eingriffen.
- Frühmobilisation ist definiert für chirurgische Patienten als gezielte Mobilisierung am 1. postoperativen Tag, für die Intensivstation innerhalb von 72 Stunden nach Aufnahme. Für konservative Fächer wird empfohlen, analog vorzugehen.
- Mobilisation ist definiert als die Maßnahmen am Patienten, die passive oder aktive Bewegungsübungen einleiten und/oder unterstützen und das Ziel haben, die Bewegungsfähigkeit zu fördern und/oder zu erhalten (1).
1. Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), AWMF: S2e-Leitlinie: „Lagerungstherapie und Frühmobilisation zur Prophylaxe oder Therapie von pulmonalen Funktionsstörungen“. Revision 2015 – gültig bis 04/2019. AWMF-Registernummer 001/015. www.awmf. org/leitlinien/detail/ll/001–015.html (last accessed on 9 April 2019).
Entscheidungen über diagnostische/therapeutische Maßnahmen an Funktionsassessments koppeln
Entscheidungen über diagnostische und therapeutische Maßnahmen im höheren Lebensalter sollen an ein Funktionsassessment und nicht an das kalendarische Alter gekoppelt werden.
- Ältere Patienten stellen eine heterogene Gruppe dar, sodass Entscheidungen über diagnostische und therapeutische Maßnahmen nicht an das kalendarische Alter gebunden werden sollen, weil daraus sowohl eine Über- wie auch Unterversorgung resultieren kann.
- Der Einsatz eines geriatrischen Assessments ist sowohl geeignet, Patientengruppen mit hohem Risikopotential für negative Outcomes zu identifizieren, als auch durch Einleitung spezifischer Maßnahmen Mortalität, Komplikationsraten, funktionelle Fähigkeiten, Krankenhausverweildauer und Institutionalisierungsraten günstig zu beeinflussen. (1–9)
1. Ellis G, Whitehead MA, Robinson D, et al.: Comprehensive geriatric assessment for older adults admitted to hospital: meta-analysis of randomised controlled trials. BMJ 2011; 343: d6553.
2. Deschodt M, Flamaing J, Haentjens P, et al.: Impact of geriatric consultation teams on clinical outcome in acute hospitals: a systematic review and metaanalysis. BMC Med 2013; 11: 48
3. Puts MT, Santos B, Hardt J, et al.: An update on a systematic review of the use of geriatric assessment for older adults in oncology. Ann Oncol 2014; 25: 307–15.
4. Palumbo A, Bringhen S, Mateos MV, et al.: Geriatric assessment predicts survival and toxicities in elderly myeloma patients: and international Myeloma Working Group report. Blood 2015; 125: 2068–74.
5. Van Craen K, Braes T, Wellens N, et al.: The effectiveness of inpatient geriatric evaluation and management units: a systematic review and meta-analysis. J Am Geriatr Soc 2010; 58: 83–92.
6. Partridge JS, Harari D, Martin FC, Dhesi JK: The impact of pre-operative comprehensive geriatric assessment on postoperative outcomes in older patients undergoing scheduled surgery: a systematic review. Anaesthesia 2014; 69 (Suppl 1): 8–16.
7. Visnjevac O, Lee J, Pourafkari L, et al.: Functional capacity as a significant independent predictor of postoperative mortality of octogenarian ASA-III patients. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2014; 69: 1229–35.
8. Joseph B, Pandit V, Zangbar B, et al.: Superiority of frailty over age in predicting outcomes among geriatric trauma patients. JAMA Surg 2014; 149: 83–9.
9. Monk TG, Weldon BC, Garvan CW, et al.: Predictors of cognitive dysfunction after major noncardiac surgery. Anesthesiology 2008; 108: 18–30.
Beachtung von Stürzen und Sturzrisiko
Stürze und Sturzrisiko im höheren Lebensalter sollen diagnostisch und interventionell Beachtung finden.
- Stürze beim älteren Menschen sind ein häufiger Grund für ambulante und stationäre medizinische Maßnahmen.
- Eingetretene Stürze und Frakturen sind assoziiert mit einer erhöhten Komplikationsrate im Krankenhaus einschließlich Mortalität, der Häufigkeit von Delirien, einer Abnahme funktioneller Fähigkeiten und einer erhöhten Institutionalisierungsrate.
- Die rechtzeitige Identifikation von Risikofaktoren für Stürze sowie Intervention ist geeignet, die Häufigkeit von Stürzen und daraus resultierende Verletzungen zu reduzieren.
Beachtung von Mangelernährung
Mangelernährung beim geriatrischen Patienten soll diagnostisch und interventionell Beachtung finden.
- Unter- und Fehlernährung mit den Folgen von Frailty (Gebrechlichkeit) und Sarkopenie (Muskelmassenverlust und sekundäre Kraftabnahme) sind die häufigsten Ernährungsstörungen im höheren Lebensalter.
- Mangelernährung ist mit einem generell ungünstigeren Krankheitsverlauf und erhöhter Mortalität assoziiert. Mangelernährung wird häufig nicht erkannt und entsprechend erfolgt eine Intervention nicht oder häufig nicht zeitgerecht. (1–7)
1. Milne AC, Potter J, Vivanti A, Avenell A: Protein and energy supplementation in elderly people at risk from malnutrition. Cochrane Database Syst Rev 2009; (2): CD003288.
2. Cawood AL, Elia M, Stratton RJ: Systematic review and meta-analysis of the effects of high protein oral nutritional supplements. Ageing Res Rev 2012; 11: 278–96.
3. Volkert D, Bauer JM, Frühwald T, et al.: Klinische Ernährung in der Geriatrie. Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) in Zusammenarbeit mit der GESKES, der AKE und der DGG. Aktuel Ernährungsmed 2013; 38: e1–e48.
4. Volkert D, Berner YN, Berry E, et al.: ESPEN guidelines on enteral nutrition: geriatrics. Clin Nutr 2006; 25: 330–60.
5. Marshall S, Bauer J, Isenring E: The consequences of malnutrition following discharge from rehabilitation to the community: a systematic review of current evidence in older adults. J Hum Nutr Diet 2014; 27: 133–41.
6. Kimber K, Gibbs M, Weekes CE, Baldwin C: Supportive interventions for enhancing dietary intake in malnourished or nutritionally at-risk adults: a systematic review of nonrandomised studies. J Hum Nutr Diet. 2015; 28: 517–45.
7. Stratton RJ, Hébuterne X, Elia M: A systematic review and meta-analysis of the impact of oral nutritional supplements on hospital readmissions. Ageing Res Rev 2013; 12: 884–897.
Therapie von Depressionen
Depressionen im höheren Lebensalter sollen bei mittelschwerer Ausprägung primär psychotherapeutisch und bei schwerer Ausprägung kombiniert psychotherapeutisch und medikamentös behandelt werden.
-
Depressive Erkrankungen im höheren Lebensalter sind häufig.
- Psychotherapeutische und medikamentöse Therapiemaßnahmen sind die empfohlenen Interventionen, insb. bei schweren Depressionen in einem kombinierten Ansatz.
- Dessen ungeachtet finden psychotherapeutische Interventionen im Vergleich zur medikamentösen Therapie beim älteren Menschen seltener statt, obwohl die Risiken einer medikamentösen Behandlung höher sind im Vergleich zu jüngeren Patienten und psychotherapeutische Maßnahmen bei mittelschweren Verläufen hinsichtlich ihrer Effektivität äquivalent sind. (1–9)
1. DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW (Hrsg.) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression: S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung, 1. Auflage. Version 5.2009, zuletzt verändert: Juni 2015. www.depression.versorgungsleit linien.de; [17.10.2015]; doi: 10.6101/ AZQ/000239.
2. Melchior H, Schulz H, Härter M: Faktencheck Gesundheit. Regionale Unterschiede in der Diagnostik und Behandlung von Depressionen. 2014.
3. Cooper C, Katona C, Lyketsos K, et al.: A systematic review of treatments for refractory depression in older adults. Am J Psychiatry 2011; 168: 681–8.
4. Coupland C, Dhiman P, Moriss R, et al.: Antidepressant use and risk of adverse outcomes in older people: population based cohort study. BMJ 2011; 343: d4551.
5. Locher C, Kossowsky J, Gaab J, et al.:Moderation of antidepressant and placebo outcomes by baseline severity in latelife depression: a systematic review and meta-analysis. J Affect Disord 2015; 181: 50–60
6. Kirkham JG, Choi N, Seitz D: Meta-analysis of problem solving therapy for the treatment of major depressive disorder in older adults. Int J Geriatr Psychiatry 2016; 31: 526–35.
7. Wilson KC, Mottram PG, Vassilas CA: Psychotherapeutic treatments for older depressed people. Cochrane Database Syst Rev 2008; (1): CD004853.
8. Huang AX, Delucchi K, Dunn LB, Nelson JC: A systematic review and meta-analysis of psychotherapy for late-life depression. Am J Geriatr Psychiatry 2015; 23: 261–73.
9. Wilkinson P, Izmeth Z: Continuation and maintenance treatments for depression in older people. Cochrane Database Syst Rev 2012; 11: CD006727.
Diagnostik und Therapie der Osteoporose
Osteoporose als Erkrankung des höheren Lebensalters soll diagnostiziert und behandelt werden.
- Die altersassoziierte Osteoporose betrifft häufiger Frauen als Männer und geht mit Knochenbrüchen einher.
- Die Folge sind in vielen Fällen eingeschränkte Mobilität, höhere Mortalität und Institutionalisierungsrate, Einschränkungen der Selbsthilfefähigkeit und der gesellschaftlichen Partizipation.
- Zur Behandlung der Erkrankung bestehen vielfältige Interventionsmöglichkeiten, die selbst nach manifesten Knochenbrüchen zu selten erfolgen.
- Des Weiteren zeigen Untersuchungen nach Therapieeinleitung deutliche Defizite in der Adhärenz. (1–11)
1. Avenell A, Mak JC, O’Connell D: Vitamin D and vitamin D analogues for preventing fractures in post-menopausal women and older men. Cochrane Database Syst Rev 2014; 4: CD000227.
2. Murad MH, Elamin KB, Abu Elnour NO, et al.: Clinical review: The effect of vitamin D on falls: a systematic review and meta-analysis. J Clin Endocrinol Metab 2011; 96: 2997–3006.
3. Stockton KA, Mengersen K, Paratz JD, et al.: Effect of vitamin D supplementation on muscle strength: a systematic review and meta-analysis. Osteoporos Int 2011; 22: 859–71.
4. Annweiler C, Beauchet O: Questioning vitamin D status of elderly fallers and nonfallers: a meta-analysis to address a „forgotten step“. J Intern Med. 2015; 277: 16–44.
5. Halfon M, Phan O, Teta D: Vitamin D: a review on ist effects on muscle strength, the risk of fall, and frailty. Biomed Res Int 2015; 2015: 953241.
6. Dachverband Osteologie: Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose bei Männern ab dem 60. Lebensjahr und bei postmenopausalen Frauen. S3-Leitlinie des Dachverbands der Deutschsprachigen Wissenschaftlichen Osteologischen Gesellschaften e.V. 2014. www.dv-osteologie.org dvo_leitlinien/osteoporose-leitlinie- 2014.
7. Pfeilschifter J: Osteoporose-Diagnostik. Was ist neu in der DVO-Leitlinie 2014) Dtsch Med Wochenschr 2015; 140: 1667–71.
8. Rush L, McCartney G, Walsh D, MacKay D: Vitamin D and subsequent all-age and premature mortality: a systematic review. BMC Public Health 2013; 13: 679.
9. Schöttker B, Ball D, Gellert C, Brenner H: Serum 25-hydroxyvitamin D levels and overall mortality. A systematic review and meta-analysis of prospective cohort studies. Ageing Res Rev 2013; 12: 708–18.
10. Hadjii P, Claus V, Ziller V, et al.: GRAND: the German retrospective cohort analysis on compliance and persistence and the associated risk of fractures in osteoporotic women treated with oral bisphosphonates. Osteoporos Int 2012; 23: 223–31.
11. Ziller V, Kostev K, Kyvernitakis I, et al.: Persistence and compliance of medica - tions used in the treatment of osteoporosis – analysis using a large scale, representative, longitudinal German database. Int J Clin Pharmacol Ther 2012; 50: 315–22.
Negativ-Empfehlungen
Deprescribing am Lebensende
Für eine therapiezielangepasste Medikation am Lebensende sollen explizite Strategien zur Beendigung präventiver Medikamente eingesetzt werden (Deprescribing).
- Die Reduktion von Belastungen und Kosten sowie der Zugewinn an Lebensqualität durch das Absetzen von Medikamenten mit präventivem Therapieansatz bei begrenzter Lebenszeitprognose konnte für Statine in paradigmatischer Weise gezeigt werden (siehe vorangegangene Empfehlung) (1).
- Auch für andere Substanzgruppen (zum Beispiel Antihypertensiva, Thrombozytenaggregationshemmer, Antikoagulanzien, orale Antidiabetika) wurden die medizinischen und pharmakoökonomischen Belastungen bei inkurabler Erkrankungssituation, bei Hochaltrigkeit und/oder im letzten Lebensjahr dargestellt und diskutiert.
- Dabei sollte das Absetzen nicht nur mit der vorhandenen Evidenz aus Studien, sondern auch mit der Erkenntnis begründet werden, dass die mit einer präventiv intendierten Therapie verfolgten Ziele nicht mehr mit den Therapiezielen bei begrenzter Lebenszeitprognose in Übereinklang zu bringen sind.
- Daher sollte das Anpassen und gegebenenfalls Absetzen der mit präventivem Ziel eingesetzten Medikation möglichst im Rahmen eines regelhaften, systematisch strukturierten Reflexionsprozesses erfolgen, der unter anderem Kriterien wie Therapieziel, Nutzen, Belastung, Lebensqualität, Polypharmazie, Entzug, Kosten als auch organische/ funktionale/mengenbezogene, kommunikative und psychologische Aspekte der Medikamenteneinnahmemit einbezieht (Deprescribing-Strategien).
1. Kutner JS, Blatchford PJ, Taylor DH et al.: Safety and benefit of discontinuing statin therapy in the setting of advanced, life-limiting disease: a randomized trial. JAMA Intern Med 2015; 175: 691–700.
Überprüfen von Medikamenten mit präventivem Therapieansatz bei begrenzter Lebenszeitprognose
Statine und vergleichbare Medikamente mit präventivem Therapieansatz sollen bei begrenzter Lebenszeitprognose von unter einem Jahr auf Nutzen und Risiken überprüft und gegebenenfalls abgesetzt werden.
- In der klinischen Situation einer voraussichtlich begrenzten Lebenserwartung sollte eine bestehende Medikation hinsichtlich des Fortbestehens der Indikation überprüft werden.
- Zum Einsatz von Statinen muss zwischen Primär- und Sekundärprävention unterschieden werden.
- Für die Primärprävention liegen derzeit keine Hinweise auf einen Nutzen vor (1–2).
- In einer italienischen Kohortenstudie profitierten hochaltrige und funktionell eingeschränkte Patienten hinsichtlich der Gesamtmortalität, aber nicht hinsichtlich kardiovaskulärer Ereignisse von einem sekundärpräventiven Einsatz von Statinen. Dies kann als Hinweis auf einen durchaus vorhandenen generellen Nutzen verstanden werden (3).
- Von einer Sekundärprävention profitieren nicht Patienten mit Herzinsuffizienz oder dialysepflichtiger Niereninsuffizienz (1).
- In einer randomisierten Studie an 381 Patienten (mittleres Alter 74 ± 11 Jahre, 48 % Frauen) mit einer Lebenserwartung unter einem Jahr war das Beenden einer bestehenden Statintherapie nicht mit vorzeitigem Versterben oder vermehrten kardiovaskulären Ereignissen, aber mit einer signifikant erhöhten Lebensqualität verbunden (4–5).
1. Cholesterol Treatment Trialists’ Collaboration. Efficacy and safety of statin therapy in older people: a meta-analysis of individual participant data from 28 randomised trials. Lancet 2019; 393: 07–415.
2. Han BH, Sutin D, Williamson JD et al.: Effect of statin treatment vs usual care on primary cardiovascular prevention among older adults. The ALLHAT-LLT randomized clinical trial. JAMA Intern Med 2017; 177: 955–65.
3. Pilotto A, Gallina P, Panza F et al.: Relation of statin use and mortality in community-dwelling frail older patients with coronary artery disease. Am J Cardiol 2016; 118: 1624–30.
4. Kutner JS, Blatchford PJ, Taylor DH et al.: Safety and benefit of discontinuing statin therapy in the setting of advanced, life-limiting disease: a randomized trial. JAMA Intern Med 2015; 175: 691–700.
5. Homes HM, Todd A: Evidence-based deprescribing of statins in patients with advanced illness. JAMA Intern Med 2015; 175: 701–2.
Abstimmung Neuverordnung mit bestehender Medikation
Die Neuverordnung eines Medikamentes soll nicht ohne Überprüfung der bestehenden Medikation erfolgen.
- Ältere Menschen nehmen im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen überproportional viele verordnete und nicht verordnete Medikamente ein, was das Risiko für Nebenwirkungen und eine inadäquate Verordnung erhöht.
- Polypharmazie führt zu reduzierter Adhärenz, unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) und zu einem erhöhten Risiko für kognitive Einschränkungen, Stürze und funktionelle Einschränkungen.
- Durch eine Überprüfung der Medikation lassen sich Medikamente mit einem hohen Risikoprofil, Medikamenteninteraktionen und solchen, die ohne Indikation fortgeführt werden, identifizieren.
- Darüber hinaus ist die Medikationsüberprüfung in der Lage, nicht indizierte wie auch indizierte, aber nicht verordnete Medikamente zu identifizieren und so die Medikamentenverordnung zu optimieren.
- Die jährliche Überprüfung ist ein Qualitätsindikator für die Medikamentenverordnung für ältere Patienten (1–14).
1. National Committee for Quality Assurance: Improving quality and patient experience – the state of health care quality 2013. Washington (DC): National Committee for Quality Assurance; Oktober 2013, S. 206.
2. Shrank WH, Polinski JM, Avorn J: Quality indicators for medication use in vulnerable elders. J Am Geriatr Soc 2007; 55 (Suppl. 2): S373–82.
3. Hajjar ER, Cafiero AC, Hanlon JT: Polypharmacy in elderly patients. Am J Geriatr Pharm 2007; 5: 345–51.
4. Steinman MA, Hanlon JT: Managing medications in clinically complex elders: “There’s got to be a happy medium”. JAMA 2010; 304: 1592–601.
5. Drenth-van Maanen AC, van Marum RJ, Knol W, et al.: Prescribing optimization method for improving prescribing in elderly patients receiving polypharmacy. Drugs Aging 2009; 26: 687–701.
6. Patterson SM, Cadogan CA, Kerse N, et al.: Interventions to improve the appropriate use of polypharmacy for older people. Cochrane Database Syst Rev 2014; 10: CD008165.
7. Santos AP, da Silva DT, Dos Santos Júnior GA, et al.: Evaluation of the heterogeneity of studies estimating the association between risk factors and the use of potentially inappropriate drug therapy for the elderly: a systematic review with meta-analysis. Eur J Clin Pharmacol 2015; 71: 1037–50.
8. Boeker EB, Ram K, Klopotowska JE, de et al.: An individual patient data metaanalysis on factors associated with adverse drug events in surgical and nonsurgical inpatients. Br J Clin Pharmacol 2015; 79: 548–57.
9. Hanlon JT, Semla TP, Schmader KE: Alternative medications for medications in the use of high-risk medications in the elderly and potentially harmful drug-disease interactions in the elderly quality measures. J Am Geriatr Soc 2015; 63: e8–18.
10. Kuhn-Thiel AM, Weiß C, Wehling M: FORTA authors/expert panel members: Consensus validation of the FORTA (Fit fOR The Aged) List: a clinical tool for increasing the appropriateness of pharmacotherapy in the elderly. Drugs Aging 2014; 31: 131–40.
11. Wehling M, Burkhardt H, Kuhn-Thiel A, et al.: VALFORTA: a randomized trial to validate the FORTA (Fit fOR The Aged) classification. Age Ageing 2016; 45: 262–67.
12. O’Mahony D, O’Sullivan D, Byrne S, et al.: STOPP/START criteria for potentially inappropriate prescribing in older people: version 2. Age Ageing 2015; 44: 213–18.
13. Renom-Guiteras A, Meyer G, Thürmann PA: The EU(7)-PIM list: a list of potentially inappropriate medications for older people consented by experts from seven European countries. Eur J Clin Pharmacol 2015; 71: 861–75.
14. American Geriatrics Society 2015 Beers Criteria Update Expert Panel: American Geriatrics Society 2015 updated Beers Criteria for potentially inappropriate medication use in older adults. J Am Geriatr Soc 2015; 63: 2227–46.
Perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) und fortgeschrittene Demenz
Bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz soll die Ernährung nicht durch eine perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) erfolgen.
- Eine perorale Ernährungsunterstützung („careful hand feeding“) für Patienten mit schwerer Demenz (<10 Punkte in „Mini Mental Status Examination“ [MMSE]) ist hinsichtlich der Ergebnisse Sterblichkeit, Aspirationspneumonie, funktioneller Status und Wohlbefinden mindestens so effektiv wie eine Sondenernährung durch PEG.
- Normale Nahrung wird von Patienten bevorzugt. Sondenernährung ist assoziiert mit Agitationszuständen, vermehrtem Einsatz von mechanischen und medikamentösen Fixierungsmaßnahmen und der Verschlechterung von Dekubitalulzera.
- Die Anlage von Ernährungssonden ist assoziiert mit den Risiken der Blutung und Infektion.
- Eine perorale Ernährungsunterstützung soll erfolgen. (1–15)
1. Finucane TE, Christmas C, Travis K: Tube feeding in patients with advanced dementia: a review of the evidence. JAMA 1999; 282: 1365–70.
2. Gabriel SE, Normand ST: Getting the methods right – the foundation of patientcentered outcomes research. N Engl J Med 2012; 367: 787–90. 23.
3. Teno JM, Feng Z, Mitchell SL, et al.: Do financial incentives of introducing case mix reimbursement increase feeding tube use in nursing home residents? J Am Geriatr Soc 2008; 56: 887–90.
4. Teno JM, Mitchell SL, Kuo SK, et al.: Decision- making and outcomes of feeding tube insertion: a five-state study. J Am Geriatr Soc 2011; 59: 881–86.
5. Palecek EJ, Teno JM, Casarett DJ, et al.: Comfort feeding only: a proposal to bring clarity to decision-making regarding difficulty with eating for persons with advanced dementia. J Am Geriatr Soc 2010; 58: 580–84.
6. Hanson LC, Carey TS, Caprio AJ, et al.: Improving decision-making for feeding options in advanced dementia: a randomized, controlled trial. J Am Geriatr Soc 2011; 59: 2009–16.
7. Teno JM, Gozalo PL, Mitchell SL, et al.: Does feeding tube insertion and its timing improve survival? J Am Geriatr Soc 2012; 60: 1918–21.
8. Hanson LC, Ersek M, Gilliam R, Carey TS: Oral feeding options for people with dementia: a systematic review. J Am Geriatr Soc 2011; 59: 463–72.
9. Palecek EJ, Teno JM, Casarett DJ, et al.: Comfort feeding only: a proposal to bring clarity to decision-making regarding difficulty with eating for persons with advanced dementia. J Am Geriatr Soc 2010; 58: 580–84.
10. Sorrell JM: Use of feeding tubes in patients with advanced dementia: are we doing harm? J Psychosoc Nurs Ment Health Serv 2010; 48: 15–8.
11. Sampson EL, Candy B, Jones L: Enteral tube feeding for older people with advanced dementia. Cochrane Database Syst Rev 2009; (2): CD007209.
12. Gillick MR, Volandes AE: The standard of caring: why do we still use feeding tubes in patients with advanced dementia? J Am Med Dir Assoc 2008; 9: 364–67.
13. Ganzini L: Artificial nutrition and hydration at the end of life: ethics and evidence. Palliat Support Care 2006; 4: 135–43.
14. Li I: Feeding tubes in patients with severe dementia. Am Fam Physician 2002; 65: 1605–11.
15. Mitchell SL, Kiely DK, Lipsitz LA: The risk factors and impact on survival of feeding tube placement in nursing home residents with severe cognitive impairment. Arch Intern Med 1997; 157: 327–32.
Neuroleptika nur nach Assessment
Neuroleptika für Verhaltens- und psychologische Symptome (BPSD) bei demenziell Erkrankten sollen nicht ohne ein Assessment für die Ursachen solcher Symptome verordnet werden.
- Demenziell Erkrankte zeigen häufig Symptome von Aggression, fehlende Kooperation bei pflegerischen Maßnahmen und andere herausfordernde oder störende Verhaltensweisen.
- In solchen Situationen werden häufig Neuroleptika verordnet, obwohl die Evidenz für den Nutzen beschränkt bzw. widersprüchlich ist, während die Risiken einschließlich Übersedierung, kognitiver Verschlechterung, erhöhtem Risiko für Stürze, Schlaganfall und Sterblichkeit eindeutig belegt sind.
- Die Anwendung solcher Medikamente bei demenziell Erkrankten sollte beschränkt werden auf Situationen, in denen nicht-pharmakologische Maßnahmen versagen und ein erhebliches Risiko für Eigen- und Fremdgefährdung besteht.
- Durch Erkennen und Beeinflussung von Umständen, die mit Verhaltensauffälligkeiten einhergehen, können medikamentöse Interventionen oft überflüssig gemacht werden. (1–13)
1. National Institute for Health and Clinical Excellence and Social Care Institute for Excellence NICE-SCIE: National Collaborating Centre for Mental Health. Clinical guidelines 42: Dementia: Supporting people with dementia and their carers in health and social care. London 2006: Amended 2011. www.nice.org.uk/CG042.
2. Maher A, Maglione M, Bagley S, et al.: Efficacy and comparative effectiveness of atypical antipsychotic medications for off-label uses in adults: a systematic review and meta-analysis. JAMA 2011; 306: 1359–69.
3. Schneider LS, Tariot PN, Dagerman KS, et al.: Effectiveness of atypical antipsychotic drugs in patients with Alzheimer’s disease. N Engl J Med 2006; 355: 1525–38.
4. Gitlin LN, Kales HC, Lyketsos, CG: Nonpharmacologic management of behavioral symptoms in dementia. JAMA 2012; 308: 2020–29.
5. American Medical Directors Association: Dementia in the long term care setting clinical practice guideline. Columbia, MD: AMDA 2012. www.amda. com/education/moodandbehavior/AM DA%20CPG_Dementia.pdf
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12. Schneider LS, Dagerman KS, Insel P: Risk of death with atypical antipsychotic drug treatment for dementia: meta-analysis of randomized placebo-controlled trials. JAMA 2005; 294: 1934–43.
13. Kales HC, Gitlin LN, Lyketsos CG, Detroit Expert Panel on the Assessment and Management of the Neuropsychiatric Symptoms of Dementia: Management of neuropsychiatric symptoms of dementia in clinical settings: recommendations from a multidisciplinary expert panel. J Am Geriatr Soc 2014; 62: 762–69.
Einsatz von Benzodiazepinen
Benzodiazepine oder andere Sedativa bzw. Hypnotika bei älteren Patienten sollen nicht als Mittel der 1. Wahl im Falle von Schlafstörungen, Agitation oder Delir eingesetzt werden.
- Große Studien zeigen konsistent, dass das Risiko für Verkehrsunfälle, Stürze, Hüftfrakturen mit erhöhter Hospitalisierungs- und Sterblichkeitsrate mehr als doppelt so hoch ist bei älteren Erwachsenen, die Benzodiazepine oder andere Sedativa und Hypnotika einnehmen.
- Ältere Patienten, ihre Betreuer und Ärzte müssen diese potenziellen Risiken berücksichtigen, wenn eine medikamentöse Verordnung für Schlafstörungen, Erregungszustände und Verwirrtheit erwogen wird.
- Die Anwendung von Benzodiazepinen sollte beschränkt werden auf die Behandlung von Alkoholentzugssymptomen oder schweren, generalisierten Angststörungen, die auf andere Behandlungsstrategien nicht ansprechen. (1–6)
1. Royce TJ, Hendrix LH, Stokes WA, et al.: Cancer screening rates in individuals with different life expectancies. JAMA Intern Med 2014; 174: 1558–65.
2. Finkle WD, Der JS, Greenland S, et al.: Risk of fractures requiring hospitalization after an initial prescription of zolpidem, alprazolam, lorazepam or diazepam in older adults. J Am Geriatr Soc 2011; 59: 1883–90.
3. Allain H, Bentue-Ferrer D, Polard E, et al.: Postural instability and consequent falls and hip fractures associated with use of hypnotics in the elderly: a comparative review. Drugs Aging 2005; 22: 749–65.
4. Kripke DF, Langer RD, Kline LE. Hypnotics’ association with mortality or cancer: a matched cohort study. BMJ Open 2012; 2: e000850.
5. Glass J, Lanctôt KL, Herrmann N, et al.: Sedative hypnotics in older people with insomnia: meta-analysis of risks and benefits. BMJ 2005; 331: 1169.
6. Sivertsen B, Omvik S, Pallesen S, et al.: Cognitive behavioral therapy vs zopi - clone for treatment of chronic primary insomnia in older adults: a randomized controlled trial. JAMA 2006; 295: 2851–58.